European-American Evangelistic Crusades

             
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Unhappy Meals

 
von Michael Pollan
 
The New York Times Magazine, 28. Januar 2007
 
Essen Sie echte Lebensmittel. Nicht zu viel. Überwiegend Pflanzen.
Das ist, mehr oder weniger, die kurze Antwort auf die angeblich unglaublich komplizierte und verwirrende Frage, was wir Menschen essen sollen um den maximalen Zustand von Gesundheit zu bewahren oder zu erreichen. Ich hasse es, gleich hier ganz am Anfang einer langen Ausarbeitung das Fazit zu verraten und bekenne, dass ich versucht bin, die Dinge zu komplizieren damit ich ein paar Tausend Worte mehr in diesen Aufsatz hinein packen kann. Ich werde versuchen, dem zu widerstehen und lediglich ein paar weitere Details anzufügen, um den Rat etwas zu verdeutlichen. So etwas wie: Ein wenig Fleisch wird Sie nicht umbringen, obwohl es besser als Beilage dienen sollte als es als Hauptmahlzeit zu verzehren. Und es wird Ihnen wesentlich besser gehen, wenn Sie ganzheitliche, frische Kost essen als verarbeitete Nahrungsmittelprodukte. Das ist es, was ich mit der Empfehlung meine, “Lebensmittel” zu essen. Einst waren Lebensmittel alles, was man essen konnte, doch heutzutage gibt es zahlreiche andere, essbare, nahrungsmittelähnliche Substanzen im Supermarkt. Diese neuartigen Produkte der Nahrungsmittelwissenschaft kommen oft in mit Gesundheitsbehauptungen geschmückten Verpackungen daher, was mich zu einer damit in Verbindung stehenden Faustregel führt: Wenn Sie auf Ihre Gesundheit bedacht sind, sollten Sie Nahrungsmittelprodukte meiden, die Gesundheitsbehauptungen aufstellen. Warum? Weil die Gesundheitsbehauptung auf einem Nahrungsmittelprodukt ein gutes Indiz dafür ist, dass es sich nicht um echte Lebensmittel handelt – und Lebensmittel sind es doch, die Sie essen wollen.
 
Oha. Nun klingen die Dinge plötzlich etwas komplizierter, nicht wahr? Entschuldigung. Doch so ist es nun einmal, sobald man versucht, der ganzen irritierenden Frage um Ernährung und Gesundheit auf den Grund zu gehen. Es dauert nicht lange und eine dichte Wolke der Verwirrung macht sich breit. Früher oder später geht jedes solide Wissen, das Sie über die Verbindungen zwischen Ernährung und Gesundheit gehabt zu haben glaubten, im Windstoß der neuesten Studie flöten.
 
Im letzten Winter erreichte uns die Nachricht, dass eine fettarme Ernährung, von der man doch so lange glaubte, dass sie uns gegen Brustkrebs schützen würde, vermutlich gar keinen derartigen Schutz darstellt — und das von Seiten der monumentalen, vom Bund finanzierten Gesundheitsinitiative für Frauen, die ebenfalls keine Verbindung zwischen einer fettarmen Ernährung und der Anzahl von Erkrankungen der Herzkranzgefäße gefunden hat. Im Jahr zuvor haben wir erfahren, dass Faserstoffe in der Ernährung nicht, wie uns doch lange versichert worden war, hilfreich bei der Verhütung von Darmkrebs sind. Erst letzten Herbst hatten uns zwei repräsentative Studien über Omega-3-Fette, die gleichzeitig veröffentlicht wurden, erstaunlich andere Schlussfolgerungen präsentiert. Während das Medizinische Institut behauptete, dass es “unsicher ist, wie stark diese Omega-3-Fette zur Verbesserung der Gesundheit beitragen” (und sie können sogar das Gegenteil bewirken wenn sie aus mit Quecksilber beladenem Fisch stammen), erklärte eine durch die Universität Harvard durchgeführte Studie, man könne einfach schon durch den mehrmaligen Verzehr von Fisch pro Woche (oder durch das Trinken von genügend Fischöl) das Risiko, durch einen Herzinfarkt zu sterben, um mehr als ein Drittel senken — eine erstaunlich hoffnungsvolle Nachricht. Es ist kein Wunder, dass Omega-3- Fettsäuren geeignet sind, zu den Haferkleien des Jahres 2007 zu werden, denn Nahrungsmittelwissenschaftler packen Fischöl und Algenöl in kleine Mikrokapseln und bauschen sie zu so grundlegenden Nahrungsmitteln auf, wie es Brot, Milch, Joghurt und Käse früher gewesen sind. All das wird schon bald, da kann man sich sicher sein, fischige neue Gesundheitsbehauptungen aufsprießen lassen. (Erinnern Sie sich noch an die Regel?)
 
Mittlerweile registrieren Sie wahrscheinlich kognitive Dissonanz des Supermarkt-Kunden oder des Lesers der Rubriken über wissenschaftliche Studien und empfinden auch ein wenig Nostalgie angesichts der Einfachheit und Solidität der ersten drei Sätze dieses Artikels. Letztere bin ich immer noch gewillt, gegen die sich ständig ändernden Winde der Ernährungswissenschaft und der Werbung der Nahrungsmittelindustrie zu verteidigen. Doch bevor ich das tue, könnte es nützlich sein, herauszufinden, wie wir überhaupt in unseren gegenwärtigen Zustand der Verwirrung und Beunruhigung hinsichtlich der Ernährung hinein gelangt sind.
 
Die Geschichte, wie die grundlegenden Fragen darüber, was man essen sollte, so kompliziert geworden sind, offenbart eine Menge über die institutionellen Gebote der Nahrungsmittelindustrie, die Ernährungswissenschaft und — ähm — des Journalismus, drei Parteien, die viel durch eine weit verbreitete Verwirrung gewinnen, die das umgibt, was immerhin die elementare Frage ist, die ein Omnivore zu lösen hat. Menschen, die ohne Hilfe von Experten entscheiden, was sie essen — etwas, was wir seit Urzeiten mit bemerkenswertem Erfolg praktiziert haben — sind ernsthaft  unrentabel für einen Nahrungsmittelhersteller, merklich riskant für einen Ernährungswissenschaftler und schlichtweg langweilig für den Verleger einer Zeitung oder einen Journalisten. (Oder, wenn wir schon dabei sind, für einen Leser. Wer will zum wiederholten Male hören: „Iss mehr Obst und Gemüse”?) Und so hat sich wie ein dichter grauer Nebel eine große Verschwörung der Verwirrung um die einfachste Frage der Ernährung gesammelt — sehr zum Vorteil aller Beteiligten. Außer vielleicht des angeblichen Nutznießers all dieser ernährungswissenschaftlichen Untersuchungen und Ratschläge: uns und unsere Gesundheit und Freude als Esser.
 
VON LEBENSMITTELN ZU NÄHRSTOFFEN
 
Es war in den 1980er Jahren, dass Lebensmittel begannen, aus dem amerikanischen Supermarkt zu verschwinden und schrittweise durch “Nährstoffe” ersetzt wurden, was nicht dasselbe ist. Wo einst die vertrauten Namen erkennbarer Lebensmittel — Dinge wie Eier, Frühstücksflocken oder Kekse — stolz auf den bunten Packungen prangten, die die Regale füllten, eroberten nun neue Begriffe wie ”Ballaststoffe” und ”Cholesterin” und ‘gesättigte Fettsäuren” das Terrain. Das Vorhandensein oder Fehlen dieser unsichtbaren Substanzen, so glaubten die Verbraucher nun, würde dem Esser Vorteile für seine Gesundheit verschaffen. Im Vergleich dazu wurden die Lebensmittel nun zu plumpen, altmodischen und entschieden unwissenschaftlichen Dingen — wer konnte schon sagen, was sich wirklich darin befand? Doch Nährstoffe — diese chemischen Komponenten und Mineralien in Nahrungsmitteln, die Ernährungswissenschaftler als wichtig für die Gesundheit deklariert hatten — leuchteten unter der Verheißung wissenschaftlicher Sicherheit; iss mehr von den richtigen und weniger von den falschen und du lebst länger und vermeidest chronische Krankheiten.
 
Nährstoffe selbst hatte es als Konzept bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts gegeben, als der englische Arzt und Chemiker William Prout identifizierte, was man später als „Makronährstoffe“ bezeichnete: Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate. Man glaubte, das sei so ziemlich alles, was Lebensmittel ausmachte, bis Ärzte bemerkten, dass eine adäquate Versorgung mit diesen “großen Drei” nicht unbedingt dafür sorgte, dass Menschen gut ernährt waren. Ende des 19. Jahrhunderts waren britische Ärzte verblüfft angesichts der Tatsache, dass chinesische Arbeiter in den malaiischen Staaten an einer Krankheit namens Beriberi starben, von der Tamilen oder eingeborene Malaien jedoch nicht befallen wurden. Das Rätsel wurde gelöst als jemand darauf hinwies, dass die Chinesen ”polierten” oder weißen Reis aßen während die anderen Reis aßen, der nicht mechanisch gemahlen worden war. Einige Jahre später entdeckte Kasimir Funk, ein polnischer Chemiker, einen ”essentiellen Nährstoff” in Reishülsen, der gegen Beriberi schützt, und nannte ihn ein „Vitamin“, den ersten Mikronährstoff. Vitamine brachten eine Art Glanz in die Ernährungswissenschaft und obwohl gewisse Teile der Bevölkerung begannen, nach Empfehlung der Experten zu essen, schafften es Nährstoffe eigentlich erst im 20. Jahrhundert, in der populären Vorstellung über die Bedeutung des Essens die Lebensmittel beiseite zu drängen.
 
Es war kein einzelnes Ereignis, das die Verlagerung vom Essen von Lebensmitteln auf das Essen von Nährstoffen kennzeichnete, doch im Rückblick scheint eine wenig beachtete, politische Auseinandersetzung in Washington im Jahr 1977 geholfen zu haben, die amerikanische Nahrungsmittelkultur auf diesen dämmrigen Pfad zu treiben. Als Reaktion auf einen alarmierenden Anstieg chronischer Krankheiten in Verbindung mit der Ernährung — einschließlich Herzkrankheiten, Krebs und Diabetes — führte ein vom Senat auserwähltes Ernährungskomitee unter der Führung von George McGovern Anhörungen über das Problem durch und erstellte was von Rechts wegen ein unverfängliches Dokument mit dem Titel ”Ernährungsziele für die Vereinigten Staaten” sein sollte. Das Komitee fand folgendes heraus: Während die Anzahl der Erkrankungen der Herzkranzgefäße seit dem Zweiten Weltkrieg in Amerika rapide angestiegen war, wiesen andere Kulturen, die eine traditionelle, größtenteils pflanzliche Ernährung praktiziert hatten, erstaunlich geringe Zahlen in Bezug auf chronische Erkrankungen auf. Epidemiologen hatten ebenfalls beobachtet, dass in den Kriegsjahren in Amerika, als Fleisch und Milchprodukte strikt rationiert wurden, die Anzahl der Herzerkrankungen vorübergehend schlagartig sank.
 
Nachdem das Komitee schlicht eins und eins zusammengezählt hatte, erarbeitete es eine geradlinige Zusammenstellung von Ernährungsrichtlinien und rief die Amerikaner auf, ihren Konsum an Fleisch und Milchprodukten herunterzuschrauben. Innerhalb von Wochen wurde das Komitee von einem sich aus der Fleisch- und Milchindustrie erhebenden Feuersturm verschlungen und Senator McGovern (der eine ganze Reihe von Viehzüchtern unter seinen Wählern in South Dakota hatte) wurde gezwungen, den Rückzug anzutreten. Die Empfehlungen des Komitees wurden eilig neu verfasst. Klartext bezüglich der Ernährung — das Komitee hatte der amerikanischen Bevölkerung geraten, tatsächlich “den Fleischkonsum zu reduzieren” — wurde durch einen geschickten Kompromiss ersetzt: ”Wählt Fleischsorten, Geflügel und Fisch, die den Konsum von gesättigten Fetten reduzieren.”
 
Eine subtile Veränderung in der Betonung, könnte man sagen, und doch ein himmelweiter Unterschied. Zunächst einmal war die eigentliche Botschaft, von einem bestimmten Nahrungsmittel “weniger zu essen”, völlig untergegangen. Man suche danach nie wieder in irgendeiner offiziellen Ernährungsempfehlung der Vereinigten Staaten danach. Zweitens: man beachte, wie Unterschiede zwischen so andersartigen Arten wie Fisch, Rindfleisch und Geflügel einfach zusammengebrochen sind. Diese drei ehrwürdigen Nahrungsmittel, von denen jedes eine gänzlich andere Klasse repräsentiert, werden nun als Lieferant eines einzelnen Nährstoffs in einen Topf geworfen. Man beachte auch, wie die neue Sprache die Nahrungsmittel selbst entlastet; der Übeltäter ist nun eine obskure, unsichtbare, geschmacklose — und politisch unverfängliche — Substanz, die in dem, was man „gesättigtes Fett“ nennt, lauern mag oder auch nicht.
 
Die linguistische Kapitulation konnte McGovern jedoch nicht vor den Folgen seines groben Fehlers retten; schon bei der nächsten Wahl im Jahr 1980 sorgte die Rindfleischlobby dafür, dass der über drei Perioden tätig gewesene Senator verbannt wurde und sandte damit eine unmissverständliche Warnung an jeden aus, der die Ernährung des Amerikaners und insbesondere dass große Stück Tiereiweiß mitten auf seinem Teller herausfordern könnte. Fortan scheuten sich die von der Regierung herausgegebenen Ernährungsrichtlinien, Klartext über ganze Nahrungsmittel zu reden, von denen jedes seinen Berufsverband hat, und erscheinen stattdessen gekleidet in wissenschaftlichen, beschönigenden Beschreibungen und sprechen von Nährstoffen – Gebilde, die nur wenige Amerikaner wirklich verstehen, die jedoch keine mächtige Lobby in Washington haben. Das war exakt der Kurs, den die Nationale Akademie der Wissenschaften einschlug, als sie 1982 ihren richtungweisenden Bericht über Ernährung und Krebs herausgab. Nährstoff für Nährstoff auf eine Art und Weise dargestellt, die garantiert keine Nahrungsmittelgruppe angreift, chiffrierte er die offizielle, neue Ernährungssprache. Industrie und Medien folgten dem Beispiel und Begriffe wie „mehrfach ungesättigt“, „Cholesterin“, „einfach ungesättigt“, „Kohlenhydrate“, „Ballaststoffe“, „Polyphenol“, „Aminosäuren“ und „Karotin“ besiedelten bald einen Großteil des kulturellen Raums, der zuvor von der greifbaren Substanz besetzt worden war, die man einst als Lebensmittel kannte. Das Zeitalter des Nutritionismus war angebrochen.
 
DER AUFSTIEG DES NUTRITIONISMUS
 
Ich bin diesem Begriff erstmals in dem Werk eines australischen Soziologen namens Gyorgy Scrinis begegnet. Das erste, was man in diesem Zusammenhang verstehen muss, ist, dass Nutritionismus nicht dasselbe ist wie Ernährung. Wie die Endung ”ismus” schon vermuten lässt, handelt es sich nicht um ein wissenschaftliches Fach, sondern um eine Ideologie. Ideologien sind Wege, um breite Landstriche des Lebens und der Erfahrung unter einer Reihe von geteilten, jedoch unerforschten Annahmen zu organisieren. Durch dieses Merkmal lässt sich eine Ideologie besonders schwer erkennen, zumindest während sie ihren Einfluss auf unsere Kultur ausübt. Eine herrschende Ideologie ist ein wenig wie das Wetter – alles durchdringend und praktisch unausweichlich. Doch wir können es ja dennoch versuchen.
 
Im Fall des Nutritionismus ist die weithin geteilte und dennoch unerforschte Annahme, dass der Schlüssel zum Verstehen der Lebensmittel in der Tat der Nährstoff ist. Von dieser grundlegenden Prämisse ausgehend folgen mehrere andere. Da Nährstoffe im Vergleich mit Lebensmitteln unsichtbar und somit leicht geheimnisvoll sind, fällt es den Wissenschaftlern (und den Journalisten, durch die diese Wissenschaftler sprechen) zu, uns die verborgene Realität von Lebensmitteln zu erklären. Zum Eintritt in eine Welt, in der man sich von unsichtbaren Nährstoffen ernährt, braucht man jede Menge Hilfe von Experten.
 
Doch wobei genau helfen uns eigentlich diese Experten? Das führt uns zu einer weiteren unerforschten Annahme: dass es beim Essen gänzlich darum geht, die körperliche Gesundheit zu erhalten und zu fördern. Die berühmte Verfügung von Hippokrates, in der es heißt: ”Lasst eure Nahrungsmittel eure Heilmittel sein” wird rituell beschworen, um diesen Gedanken zu stützen. Ich lasse die Prämisse für den Augenblick einfach stehen und will lediglich darauf hinweisen, dass sie nicht von allen Kulturen geteilt wird und dass die Erfahrung dieser anderen Kulturen darauf schließen lässt, dass das Betrachten der Nahrung als Mittel für etwas anderes als körperliche Gesundheit — wie etwa zum Genuss oder zur Gemeinschaftsförderung — die Menschen nicht weniger gesund macht; in der Tat gibt es einigen Grund zu der Annahme, dass es sie sogar gesünder macht. Das ist es, was wir gewöhnlich im Sinn haben, wenn wir von dem „französischen Paradox“ sprechen — der Tatsache, dass eine Bevölkerung alle Arten von ungesunden Nährstoffen zu sich nimmt und doch in vielerlei Hinsicht gesünder ist als wir Amerikaner. Es ist also zumindest fraglich, ob uns der Nutritionismus wirklich zu irgendetwas nütze ist.
 
Eine weitere potentielle Schwäche dieser Ideologie ist, dass sie Schwierigkeiten damit hat, qualitative Unterscheidungen zwischen Nahrungsmitteln zu machen. Fisch, Rindfleisch und Geflügel werden so durch die Brille des Nutritionisten in erster Linie zu einem Lieferanten für unterschiedliche Mengen an Fetten und Proteinen und welche Nährstoffe auch immer sie sonst noch im Blick haben. In ähnlicher Weise verschwinden jegliche qualitative Unterschiede zwischen verarbeiteten Nahrungsmitteln und ganzheitlichen Lebensmitteln wenn unser Fokus darauf ausgerichtet ist, die Menge der Nährstoffe zu bestimmen, die sie enthalten (oder, genauer gesagt, die bekannten Nährstoffe).
 
Das ist ein großer Segen für die Hersteller von verarbeiteten Nahrungsmitteln und es hilft, zu erklären, warum sie so glücklich waren, in das Programm des Nutritionismus einzusteigen. In den Jahren nach der Kapitulation des Senators McGovern und des Berichtes der Nationalen Akademie von 1982 hat die Nahrungsmittelindustrie sich daran gemacht, Tausende von populären Lebensmittelprodukten neu zu entwickeln, so dass diese nun mehr von den Nährstoffen enthalten, die Wissenschaft und Regierung zu guten Nährstoffen erklärt haben und weniger von denen, die als schlecht klassifiziert wurden. Und bis Ende der 1980er Jahre waren wir in ein goldenes Zeitalter der Nahrungsmittelwissenschaft eingetreten. Das Jahr der Haferkleie — 1988 — diente als eine Art Einführungsparty für die Nahrungsmittelwissenschaftler, die erfolgreich darin waren, das Material in fast jedes verarbeitete Nahrungsmittel zu bringen, das in Amerika verkauft wird. Der Augenblick der Haferkleie auf der Ernährungsbühne währte nicht lange, doch das Muster war etabliert worden und seither hat alle paar Jahre eine neue Substanz ihren Auftritt unter den Werbescheinwerfern antreten dürfen. (Hier kommt Omega-3!)
 
Im Vergleich hat das typische, echte Lebensmittel es ungleich schwerer, unter den Regeln des Nutritionismus wettbewerbsfähig zu sein, und wenn es nur deshalb ist, weil etwas wie eine Banane oder eine Avocado ihre Nährstoffzusammensetzung nicht leicht verändern kann (obwohl, da können wir versichert sein, die Gentechniker hart daran arbeiten, dieses Problem zu lösen). Bisher jedenfalls kann man keine Haferkleie in eine Banane integrieren. Abhängig von der jeweils herrschenden Ernährungsorthodoxie kann eine Avocado also ein hoch fetthaltiges Lebensmittel sein, das es zu meiden gilt (altes Denken) oder ein Lebensmittel, das reich an einfach ungesättigten Fetten und somit zu empfehlen ist (neues Denken). Das Schicksal jedes ganzheitlichen Lebensmittels steht und fällt mit jeder Veränderung im nutritionalen Wetter während die verarbeiteten Nahrungsmittel einfach neu formuliert werden. Deshalb erhielten auch, als die Manie der Atkins-Diät in der Nahrungsindustrie Wellen schlug, Brot und Pasta rasch eine Neustrukturierung (Senkung der Kohlenhydrate; Erhöhung des Proteins) während die armen, unveränderten Kartoffeln und Karotten im Regen stehen blieben.
 
Natürlich ist es auch um ein Vielfaches einfacher, eine Gesundheitsbehauptung auf eine Packung gezuckerten Müslis zu setzen als auf eine Kartoffel oder eine Möhre, mit der widernatürlichen Folge, dass die gesündesten Lebensmittel im Supermarkt still wie Opfer eines Schlaganfalls in der Obst- und Gemüseabteilung liegen während ein paar Regalreihen weiter die Schoko-Knusper-Müslis ihre neuartige Vollkorn-Qualität herausposaunen.
 
ISS RICHTIG, WERDE FETTER
 
Der Nutritionismus ist also gut fürs Geschäft. Doch ist er auch gut für uns? Man mag denken, dass eine nationale Fixierung auf Nährstoffe zu messbaren Verbesserungen der allgemeinen Volksgesundheit führen. Doch damit das geschehen würde, hätte es sich bei der zugrunde liegenden Ernährungswissenschaft sowie den auf dieser Wissenschaft basierenden offiziellen Empfehlungen (und dem Journalismus) um fehlerfreie und gut fundierte Lehre handeln müssen. Aber dies ist selten der Fall gewesen.
 
Man bedenke nur, was unmittelbar nach den “Goldenen Regeln” von 1977 geschah — da kam McGoverns Meisterwerk des politisch-ernährungswissenschaftlichen Kompromisses. Im Kielwasser der Empfehlung des Gremiums, die wir auf gesättigte Fette reduzieren konnten, der 1982 die gleich lautende Empfehlung des Berichts der Nationalen Akademie über Krebs folgte, haben die Amerikaner tatsächlich ihre Ernährung umgestellt und ein Vierteljahrhundert lang versucht, zu tun, was ihnen gesagt worden war. Nun ja, irgendwie. Das industrielle Nahrungsmittelangebot wurde prompt neu formuliert um die offiziellen Ratschläge zu reflektieren und bescherte uns fettarmes Schweinefleisch, fettarme Kartoffelchips und die ganzen fettarmen Pastagerichte und Maissirup mit hohem Fruktosegehalt (jedoch fettarm!), die wir konsumieren konnten. Es stellte sich heraus, dass wir eine ganze Menge davon konsumieren konnten. Seltsamerweise sind die Amerikaner mit dieser neuen, fettarmen Ernährung  so richtig fett geworden — tatsächlich datieren viele den Ursprung der derzeitigen Epidemie an Fettleibigkeit und Diabetes auf die späten 1970er Jahre zurück, als die Amerikaner begannen, sich im Überkonsum von Kohlenhydraten zu ergehen, angeblich um die Übel des Fetts zu vermeiden.
 
Diese Story ist bereits zuvor erzählt worden, namentlich in dem Artikel
”What if It’s All Been a Big Fat Lie?” (Was, wenn das alles eine große, fette Lüge war?) von Gary Taubes vom 7. Juli 2002, doch es ist ein wenig komplizierter als die offizielle Version aufzeigt. In dieser Version, die den aktuellsten Atkins-Wahn inspiriert hat, wurde uns gesagt, dass die Amerikaner fett wurden als sie auf der Basis von schlechten wissenschaftlichen Ratschlägen ihre Ernährung von Fetten auf Kohlenhydrate verlagert hätten. Damit wird unterstellt, dass eine Neubewertung der beiden Nährstoffe angezeigt ist: Fett macht uns nicht fett; die Übeltäter sind die Kohlenhydrate. (Wieso dies eine Neuigkeit sein sollte, bleibt ein Rätsel: bereits seit Menschen Tiere zum Verzehr heranzüchten, haben sie sie mit Kohlenhydraten gemästet.)
 
Doch es gibt eine Reihe von Problemen mit diesem revisionistischen Bild. Zunächst einmal: obwohl es stimmt, dass die Amerikaner seit 1977 angefangen haben, sich übermäßig mit Kohlenhydraten zu ernähren und dass das Fett prozentual zum Gesamtkaloriengehalt in der amerikanischen Ernährung seither zurückgegangen ist, haben wir tatsächlich jedoch nie unseren Verzehr von Fett heruntergeschraubt. Der Fleischverzehr ist in der Tat sogar angestiegen. Wir haben lediglich eine Menge zusätzlicher Kohlenhydrate auf unsere Teller gehäuft, die vielleicht das immer größer werdende Stück Tiereiweiß in der Mitte verdeckt, aber nicht ersetzt haben.
 
Wie ist es dazu gekommen? Ich würde mal sagen, dass die Ideologie des Nutritionismus genauso sehr die Schuld daran trägt wie die Kohlenhydrate selbst — und natürlich die menschliche Natur. Da wir die Ernährungsratschläge in den Begriff von guten und schlechten Nährstoffen gekleidet und die Empfehlungen begraben haben, dass wir weniger von einem bestimmten Nahrungsmittel essen sollten, war es leicht, die Nettobotschaft der Ernährungsrichtlinien von 1977 und 1982 wie folgt zu vereinfachen: Esst mehr fettarme Nahrungsmittel. Und das ist genau das, was wir getan haben. Wir sind immer glücklich, wenn wir den Freibrief bekommen, mehr von etwas zu essen (mit der möglichen Ausnahme von Haferkleie) und eines der Dinge, die uns der Nutritionismus verlässlich gibt, sind einige solcher Freibriefe: fettarme Kekse hier und kohlenhydratarmes Bier dort. Es ist schwer vorstellbar, dass die “fettarme Welle” sich derart ausgebreitet hätte, wenn die ursprünglichen Ernährungsempfehlungen des Senators McGovern stehen geblieben wären: esst weniger Fleisch und Milchprodukte. Denn wie kommt man von diesem Rat zu dem Gedanken, dass eine weitere Schachtel fettarme Schokokekse genau das ist, was der Arzt verordnet hat?
 
SCHLECHTE WISSENSCHAFT
 
Doch wenn der Nutritionismus zu einer Art falschem Bewusstsein im Denken des Essers führt, dann kann die Ideologie genauso leicht den Wissenschaftler in die Irre führen. Beim größten Teil der Ernährungswissenschaft geht es darum, einen Nährstoff nach dem anderen zu studieren, eine Herangehensweise, die selbst die Praktizierenden als zutiefst fehlerhaft bezeichnen. „Das Problem an der Wissenschaft, die auf diese Weise einen Nährstoff nach dem anderen untersucht”, erklärt Marion Nestle, die Ernährungswissenschaftlerin von der Universität von New York, ”ist, dass es den Nährstoff aus dem Kontext des Nahrungsmittels, das Nahrungsmittel aus dem Kontext der Ernährung und die Ernährung aus dem Kontext des Lebensstils nimmt.”
 
Wenn Ernährungswissenschaftler dies wissen, wieso tun sie es dann trotzdem? Weil eine Nährstoffvorliebe in die Art und Weise eingebaut ist, wie Wissenschaft funktioniert: Wissenschaftler brauchen individuelle Variablen, die sie isolieren können. Doch selbst das einfachste Lebensmittel ist eine hoffnungslos komplexe Sache, wenn man es studieren will, eine buchstäbliche Wildnis voller chemischer Komponenten, von denen viele in komplexer und dynamischer Verbindung zueinander stehen und die alle zusammen in dem Prozess stehen, sich von einem Zustand in einen anderen zu verändern. Wenn man also Ernährungswissenschaftler ist, tut man das einzige, was man angesichts der verfügbaren Werkzeuge tun kann: die Sache in ihre Einzelbestandteile aufspalten und diese eines nach dem anderen studieren, selbst wenn das bedeutet, dass man komplexe Interaktionen und Zusammenhänge ignorieren muss, genauso wie die Tatsache, dass das Ganze mehr oder einfach nur anders sein kann als die Summe seiner Teile. Das ist es, was wir unter reduktionistischer Wissenschaft verstehen.
 
Der wissenschaftliche Reduktionismus ist unleugbar ein mächtiges Werkzeug, doch er kann uns auch in die Irre führen, besonders wenn er auf etwas angewandt wird, was so komplex ist wie auf der einen Seite ein Lebensmittel und auf der anderen Seite ein menschlicher Esser. Es ermutigt uns dazu, eine mechanistische Sicht dieser Transaktion anzunehmen: man führe diesen Nährstoff zu und man erhalte jenes physiologische Resultat. Doch die Menschen sind auf vielerlei Weise unterschiedlich. Einige Bevölkerungsgruppen können Zucker besser verstoffwechseln als andere; abhängig von Ihrer Erbmasse können Sie die Laktose aus der Milch entweder verdauen oder nicht. Die spezifische Ökologie Ihrer inneren Organe hilft, zu bestimmen, wie effizient Sie Ihre Nahrung verdauen, so dass dieselbe Zufuhr von 100 Kalorien mehr oder weniger Energie zur Verfügung stellen kann, je nach der Proportion bestimmter Bakterien in Ihrem Darm. Es ist nichts sehr Maschinelles am menschlichen Esser und Nahrung daher schlicht als Treibstoff zu betrachten, ist falsch.
 
Außerdem essen Menschen keine Nährstoffe, sie essen Nahrungsmittel und Nahrungsmittel können sich ganz anders verhalten als die Nährstoffe, die sie enthalten. Auf der Grundlage epidemiologischer Vergleiche verschiedener Populationen glauben Forscher schon lange, dass eine Ernährung, die reich an Obst und Gemüse ist, einen gewissen Schutz vor Krebs bietet. Also stellen sie sich natürlich die Frage: Welche Nährstoffe in dieser Pflanzennahrung sind verantwortlich für diesen Effekt? Eine Hypothese ist, dass die Antioxidanzien in frischen Produkten – Komponenten wie Betakarotin, Lycopin, Vitamin E etc. — der entscheidende Faktor sind. Das macht auch durchaus Sinn: diese Moleküle (welche die Pflanzen produzieren um sich vor den hochgradig reaktiven Sauerstoffatomen zu schützen, die bei der Photosynthese entstehen) bezwingen die freien Radikalen in unserem Körper, die unsere DNA schädigen und Krebs auslösen können. Zumindest scheint es so im Reagenzglas zu funktionieren. Sobald man diese nützlichen Moleküle aus dem Kontext der ganzen Lebensmittel entfernt, in denen sie zu finden sind, wie wir es bei der Schaffung von Nahrungsergänzungsmitteln getan haben, funktionieren sie überhaupt nicht mehr. Im Fall von Betakarotin, das als Nahrungsergänzungsmittel eingenommen wurde, haben Wissenschaftler in der Tat sogar festgestellt, dass es das Risiko der Erkrankung an bestimmten Krebsarten erhöhte. Hoppla!

Was geht hier vor? Wir wissen es nicht. Es könnten die Launen der menschlichen Verdauung sein. Vielleicht schützen die Ballaststoffe (oder irgendeine andere Komponente) in einer Möhre die Antioxidanzmoleküle vor der Zerstörung durch Magensäuren gleich zu Beginn des Verdauungsprozesses. Oder es könnte auch sein, dass wir die falschen Antioxidanzien isoliert haben. Beta ist nur eines von einer ganzen Reihe von Karotinen, die in unseren gängigen Gemüsesorten zu finden sind. Vielleicht haben wir uns auf das falsche konzentriert. Oder vielleicht funktioniert Betakarotin nur im Zusammenspiel mit irgendeinem anderen Pflanzenstoff oder Prozess als Antioxidanzmittel. Unter anderen Umständen mag es sich vielleicht als Pro-oxidant verhalten.
 
In der Tat – sich die chemische Zusammensetzung irgendeiner gängigen Lebensmittelpflanze anzusehen bedeutet, zu erkennen, wie viel Komplexität doch darin lauert. Hier folgt eine Liste nur der Antioxidanzien, die in den verschiedenen Variationen von Thymian in unserem Garten identifiziert wurden:
 
4-Terpineol, Alanin, Anethol, Apigenin, Ascorbinsäure, Betakarotin, Kaffeesäure, Camphen, Carvacrol, Chlorogensäure, Chrysoeriol, Eriodictyol, Eugenol, Ferulasäure, Gallussäure, Gamma-Terpinen Isochlorogensäure, Isoeugenol, Isothymonin, Kämpferol, Labiatiksäure, Laurinsäure, Linalylacetat, Luteolin, Methionin, Myrcen, Myristinsäure, Naringenin, Oleanolinsäure, P-Coumorsäure, P-Hydroxy-Benzoesäure, Palmitinsäure, Rosmarinsäure, Selen, Tannin, Thymol, Tryptophan, Ursoliksäure, Vanillinsäure.
 
Das ist es, was Sie alles verdauen, wenn Sie Gerichte essen, die mit Thymian gewürzt sind. Einige dieser Chemikalien werden durch unsere Verdauung aufgeschlossen, doch andere tun unentdeckte Dinge in unserem Körper: vielleicht die Funktion irgendeines Gens ein- oder ausschalten oder irgendwelche freien Radikale abfangen bevor diese einen DNA-Strang tief in einer Zelle schädigen. Es wäre großartig, zu wissen, wie dies alles funktioniert, doch in der Zwischenzeit dürfen wir Thymian in dem Wissen genießen, dass es wahrscheinlich keinerlei Schaden anrichtet (da Menschen es bereits seit Urzeiten essen) und in der Tat sogar vielleicht einigen Nutzen bringt (da Menschen es bereits seit Urzeiten essen) und selbst wenn es nichts bewirkt, dass wir einfach seinen Geschmack mögen.
 
Es ist auch wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass das, was die Wissenschaft gut genug wahrnehmen kann um es zu studieren und zu isolieren, der Veränderung unterliegt und dass wir dazu neigen, anzunehmen, dass das, was wir sehen können, alles ist, was es zu sehen gibt. Als William Prout die drei großen Makronährstoffe (Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate) isolierte, gingen die Wissenschaftler davon aus, dass sie nun die Lebensmittel verstünden und was der Körper aus ihnen braucht; als ein paar Jahrzehnte später die Vitamine isoliert wurden, dachten die Wissenschaftler: “Okay, nun haben wir die Lebensmittel wirklich verstanden und wissen, was der Körper braucht, um gesund zu sein.“ Heute sind es die Polyphenole und Karotinoide, die überaus wichtig zu sein scheinen. Doch wer weiß, was sonst noch alles tief in der Seele einer Karotte vorgeht?
 
Die gute Nachricht ist, dass es für den Karottenesser keine Rolle spielt. Das ist das Großartige am Essen von Lebensmitteln im Gegensatz zum Verzehr von Nährstoffen: man muss die Komplexität einer Karotte nicht verstehen um die Vorteile daraus zu ziehen.
 
Der Fall der Antioxidanzien weist auf die Gefahren hin, die es birgt, wenn man einen Nährstoff aus dem Kontext des Nahrungsmittels zieht. Wie Frau Nestle es bereits sagte: Wissenschaftler machen einen zweiten, damit in Verbindung stehenden Fehler, wenn sie das Nahrungsmittel außerhalb des Zusammenhangs der Ernährung studieren. Wir essen nicht nur eine Sache, wir essen Lebensmittel auch in Kombinationen und in Zubereitungsformen, die die Art und Weise beeinflussen können, wie sie aufgenommen werden. Man trinke nur eine Tasse Kaffee zum Steak und der Körper ist nicht mehr in der Lage, das im Fleisch befindliche Eisen völlig zu absorbieren. Die Spur Kalkstein in der Maistortilla schließt essentielle Aminosäuren in dem Mais auf, die anderweitig unverfügbar bleiben würden. Einige dieser Komponenten in dem Zweig Thymian können gut und gerne meine Verdauung des Gerichts beeinflussen, dem ich den Thymian hinzufüge und mir helfen, eine bestimmte Komponente aufzuschließen oder vielleicht die Produktion eines Enzyms anzuregen, das nötig ist, um eine andere Komponente zu entgiften. Wir haben kaum begonnen, die Beziehungen zwischen Lebensmitteln in einer Küche zu verstehen.
 
Doch wir verstehen einige der einfachsten Beziehungen, wie die Nullsummen-Beziehung: dass, wenn Sie viel Fleisch essen, Sie wahrscheinlich nicht viel Gemüse essen. Diese einfache Tatsache mag erklären, warum Populationen, die eine sehr fleischhaltige Ernährung pflegen, ein höheres Aufkommen von Herzkrankheiten und Krebs aufweisen als solche, die das nicht tun. Und dennoch ermutigt uns der Nutritionismus, überall sonst nach der Erklärung dafür zu suchen: tief in dem Fleisch selbst sollen wir den schuldigen Nährstoff finden, von dem Wissenschaftler schon lange vermuten, dass es das gesättigte Fett ist. Und so sind sie verblüfft, wenn große Bevölkerungsstudien nicht bestätigen können, dass eine Einschränkung des Fettkonsums das Vorkommen von Herzkrankheiten und Krebs signifikant senkt.

Natürlich ist es dank der fettarmen Mode (inspiriert durch genau dieselbe einäugige Fett-Hypothese) gänzlich unmöglich, den Verzehr von gesättigten Fetten zu reduzieren ohne den Verzehr von Tiereiweiß signifikant zu senken: man trinke einfach die fettarme Milch und bestelle die Hähnchenbrust ohne Haut oder das Putenschnitzel. Vielleicht ist also der schuldige Nährstoff in Fleisch und Milchprodukten das Tiereiweiß selbst, wie einige Forscher nun annehmen. (Der Ernährungsforscher T. Colin Campbell von der Cornell Universität argumentiert entsprechend in seinem Buch The China Study). Oder, wie der Epidemiologe der Universität Harvard, Walter C. Willett, vermutet, könnten es die steroiden Hormone sein, die üblicherweise in Milch und Fleisch vorhanden sind; diese Hormone (die natürlich in Fleisch und Milch auftreten, in der industriellen Produktion jedoch oft zugesetzt werden) sind bekannt dafür, bestimmte Krebsarten zu fördern.
 
Doch Menschen, die sich Sorgen um ihre Gesundheit machen, müssen nicht darauf warten, dass Wissenschaftler diese Frage klären bevor sie entscheiden, dass es klug sein könnte, mehr Pflanzenkost und weniger Fleisch zu essen. Das ist natürlich genau das, was das Komitee von Senator McGovern uns zu sagen versucht hat.
 
Frau Nestle warnt auch davor, die Ernährung aus dem Kontext des Lebensstils herauszulösen. Die Mittelmeer-Diät wird weitläufig für eine der gesündesten Ernährungsformen gehalten, doch ein Großteil unseres Wissens darüber basiert auf Studien von Personen, die in den 1950er Jahren auf der Insel Kreta gelebt haben und deren Lebensstil sich in vielerlei Hinsicht von unserem heutigen unterscheidet. Ja, sie haben viel Olivenöl und wenig Fleisch gegessen. Doch sie haben auch viel mehr körperliche Arbeit geleistet. Sie haben regelmäßig gefastet. Sie haben eine Menge grüner Wildpflanzen gegessen – Kräuter. Und, was vielleicht am wichtigsten ist, sie haben weitaus weniger Kalorien zu sich genommen als wir das heute tun. Gleichermaßen basiert auch vieles, was wir über die Vorzüge einer vegetarischen Ernährungsweise wissen, auf Studien der Siebenten-Tages-Adventisten, die das Bild trüben weil sie absolut keinen Alkohol trinken und nie rauchen. Diese belanglosen, und doch unvermeidbaren Faktoren werden treffend ”Störvariable” genannt. Ein letztes Beispiel: Menschen, die Nahrungsergänzungsmittel nehmen, sind gesünder als die Allgemeinbevölkerung, doch ihre Gesundheit hat wahrscheinlich überhaupt nichts mit den Nahrungsergänzungsmitteln zu tun, die sie nehmen — die von aktuellen Studien als wertlos eingestuft werden. Personen, die Nahrungsergänzungsmittel einnehmen, sind besser gebildete und wohlhabende Leute, die fast per Definition ein größeres Interesse an der persönlichen Gesundheit haben als der Durchschnitt — „störende“ Faktoren, die wahrscheinlich für ihre bessere Gesundheit verantwortlich sind.
 
Doch wenn Störfaktoren des Lebensstils vergleichende Studien unterschiedlicher Bevölkerungen verzerren, leiden die angeblich strengeren „vorausblickenden“ Studien großer amerikanischer Völkergruppen unter ihren eigenen, sie wohl noch unbrauchbarer machenden Fehlern. In diesen Studien wird eine große Menge der Bevölkerung in zwei Gruppen unterteilt. Die Testgruppe verändert ihre Ernährung auf irgendeine vorgegebene Art während die Kontrollgruppe dies nicht tut. Die beiden Gruppen werden dann über viele Jahre hinweg beobachtet um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, ob die Auswirkungen die Anzahl chronischer Erkrankungen beeinflussen.
Wenn es um das Studieren der Ernährung geht, wird diese Art ausgedehnter, klinischer Langzeitversuche als der goldene Standard betrachtet. Das klingt auch sicherlich vernünftig. Im Fall der zu Beginn dieses Artikels bereits angesprochenen Studie wurden die Essgewohnheiten und gesundheitlichen Folgen von fast 49.000 Frauen (zu Beginn der Studie im Alter von 50 bis 79 Jahren) acht Jahre lang beobachtet. Eine Gruppe dieser Frauen wurde aufgefordert, ihren Verzehr von Fett auf 20% der Gesamtkalorien zu reduzieren. Die Ergebnisse wurden Anfang des letzten Jahres bekannt gegeben und machten Schlagzeilen auf der Titelseite vieler Zeitungen, von denen eine sehr typisch lautete: ”Studie ergibt, dass fettarme Ernährung Gesundheitsrisiken nicht senkt.” Und die Wolke der Verwirrung hinsichtlich Ernährung über dem Land verdunkelte sich.
 
Doch sogar eine oberflächliche Analyse der Methoden dieser Studie wirft die Frage auf, weshalb irgendjemand solch ein Ergebnis ernst nehmen sollte, geschweige denn einen doppelten Hamburger bestellen um es zu feiern, was viele Zeitungsleser zweifellos sofort getan haben. Selbst der Anfänger im Bereich des Studierens von Ernährung wird hier sofort mehrere Fehler ausmachen: der Fokus lag auf „Fett“ statt auf einem bestimmten Nahrungsmittel wie Fleisch oder Milchprodukte. So konnten die Frauen sich dieser Forderung unterwerfen indem sie einfach auf den Verzehr von fettärmeren tierischen Produkten übergingen. Auch wurde kein Unterschied zwischen den einzelnen Fettarten gemacht: Frauen, die ihre erlaubte Portion Fett aus Olivenöl oder Fisch bezogen, wurden in einen Topf geworfen mit Frauen, die ihr Fett aus fettarmem Käse, Hähnchenbrust oder Margarine zu sich nahmen. Warum? Als die Studie vor 16 Jahren konzipiert wurde, stand der ganze Gedanke rund um die ”guten und schlechten Fette” noch nicht im wissenschaftlichen Blickpunkt. Wissenschaftler studieren nur, was Wissenschaftler sehen können.
 
Doch der vielleicht größte Fehler in dieser Studie und anderen, ähnlichen Studien, ist, dass wir keine Vorstellung davon haben, was diese Frauen denn nun wirklich gegessen haben. Denn wie die meisten Menschen, wenn man sie zu ihrer Ernährung befragt, haben sie nicht die Wahrheit gesagt. Woher wissen wir das? Schlussfolgerung. Man bedenke: Als die Studie begann, wog die durchschnittliche Teilnehmerin etwa 77 Kilo und behauptete, 1.800 Kalorien am Tag zu essen. Es hätte einen sehr ungewöhnlichen Stoffwechsel erfordert um dieses Gewicht bei so wenig Nahrung zu halten. Und es würde einen noch seltsameren Stoffwechsel voraussetzen, nur ein oder zwei Pfund zu verlieren nachdem man auf eine Ernährung von 1.400 bis 1.500 Kalorien pro Tag übergegangen wäre — was die Frauen in der „fettarmen“ Gruppe vorgaben, getan zu haben. Tut mir leid, meine Damen, doch das kaufe ich Ihnen einfach nicht ab.
Tatsache ist, dass es ihnen niemand abkauft. Selbst die Wissenschaftler, die diese Art von Versuch durchführen, tun dies in dem Wissen, dass die Menschen ständig hinsichtlich ihrer Nahrungsaufnahme Lügen erzählen. Sie verfügen sogar über wissenschaftliche Zahlen für das Ausmaß der Lüge. Ernährungsversuche wie dieser verlassen sich auf Fragebögen und Studien weisen darauf hin, dass Menschen zwischen einem Fünftel und einem Drittel mehr essen als sie auf den Fragebögen angeben. Woher wissen die Forscher das? Indem sie das, was die Leute auf Fragebögen angeben mit Interviews über ihre Nahrungsaufnahme innerhalb der letzten 24 Stunden vergleichen, die man irgendwie für verlässlicher hält. Tatsächlich könnte das Ausmaß der Lüge sogar noch erheblich größer sein, wenn man sich die gewaltige Diskrepanz zwischen der errechneten Gesamtkalorienzahl pro Tag für jeden Amerikaner (3.900 Kalorien) und der durchschnittlichen Kalorienzahl ansieht, die Amerikaner angeblich tatsächlich kauen: 2.000. (Abfall macht einen Teil der Diskrepanz aus, aber keinesfalls den gesamten Unterschied.)  Alles, was wir wirklich darüber wissen, wie viel die Leute tatsächlich essen, ist, dass die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Zahlen liegt.
 
Zu versuchen, den Fragebogen zu der oben angeführten Studie auszufüllen, wie ich es kürzlich getan habe, lässt einen erkennen, wie wacklig die Daten, auf die solche Versuche sich verlassen, wirklich sind. Die Abfrage, für die ich etwa 45 Minuten gebraucht habe, begann mit einigen relativ einfachen Fragen: ”Haben Sie während der letzten drei Monate Hähnchen oder Putenfleisch gegessen?” Nachdem ich die Frage mit “Ja” beantwortet hatte, wurde ich gefragt: ”Wie oft haben Sie dabei die Haut mitgegessen?” Doch bald wurden die Fragen schwerer. So sollte ich beantworten, wann ich in den letzten drei Monaten Okra, Kürbis oder Süßkartoffel gegessen hatte, ob diese gebraten waren und falls ja, ob sie in Margarine, Butter, ‘Backfett” (in diese Kategorie packen sie unerklärlicherweise auch hydriertes Pflanzenöl und Schmalz mit hinein), Olivenöl, Kanolaöl oder Antihaftspray zubereitet wurden. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich daran nicht mehr erinnern konnte. Und selbst wenn ich im Restaurant Okra gegessen haben sollte, hätte ich ja niemals angeben können, in welcher Art von Fett diese zubereitet war. In dem Abschnitt über Fleisch habe ich die genannten Portionen in Amerika seit der Amtszeit von Präsident Hoover nicht mehr gesehen. Wenn ein Steak von 120 Gramm als “mittelgroß” bezeichnet wird, muss ich wirklich zugeben, dass das Steak, das ich während der letzten drei Monate bei unzähligen Gelegenheiten gegessen habe, wahrscheinlich das Äquivalent zu zwei oder drei (oder, im Fall eines Steaks aus dem Restaurant sicher sogar vier) dieser Portionen war. Tatsächlich bewirkten die meisten „mittleren Portionen“, mit denen ich meinen eigenen Verzehr vergleichen sollte, dass ich mich so unmäßig fühlte, dass ich geneigt war, hier und dort ein paar Gramm zu unterschlagen.
 
Das sind die Art von Daten, anhand derer die bedeutenden Fragen hinsichtlich Ernährung und Gesundheit in Amerika heutzutage entschieden werden.  
 
 
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